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Jiu Shi
In Shanghai
S u. F. Demmer
Wohnen in Shanghai
Jiu Shi

Jiu Shi Xi Jiao Hua Yuan – Jiu Shi Western Suburb Flower Garden

Der erste Teil beschreibt den Stand bei unserer Ankunft 2001, im Anschluss findet sich ein Update, das die wichtigsten bis heute gültigen Veränderungen einfängt.

Kein Mensch kann es richtig ausprechen – selbst die Chinesen schwanken – aber genau da wohnen wir.

Was aber heißt: “genau da”?

Dass heißt ziemlich genau 20 km westlich des Stadtzentrums, ca 4km vom Asien- und Inlandsflughafen Hongqiao. Damit bewegen wir uns an der Peripherie Shanghais (gehören verwaltungstechnisch sogar schon zum Vorort Qing Pu) und aus unserem Arbeitszimmer schauen wir mitten in die Felder.

Jiu Shi ist ein großer Vorstadt-Compound, d.h. rund 300 mehr oder minder große Villen und Doppelhaushälften sowie 10 Appartmentblöcke mit je fünf 160m2 Appartments wie dem unsrigem sind in der von einer Mauer umgebenen Anlage zusammengeschlossen. Wer rein und wer raus will muss sich im Zweifelsfall ausweisen können – und da können die Guards, wenn man nicht bekannt ist,  recht penetrant werden.

Von Innen sieht das Ganze aus wie ein (zugegeben recht nobler) Eigenheimvorort in Deutschland. Sträßchen mit Temposchwellen, gepflegte Gartenanlagen. Im Zentrum gibt es ein Clubhaus, ein leidlich gepflegtes Schwimmbad, Tennisplätze, Trimmwiese mit stählernen Outdoorgeräten und einen kleinen, teuren aber ganz gut sortierten Supermarkt, sogar mit Biogemüse.

Einer der wichtigsten Vorteile von Jiu Shi ist, dass der Compound groß genug ist, dass auch Kinder wirklich (Schutz)-Raum (bezieht sich auf den Verkehr) zum unbeaufsichtigten Spielen und wir z.B. zum Inline-Skaten haben. Das hört sich jetzt vielleicht ein wenig abgehoben an, im “Moloch” Shanghai sind solche Möglichkeiten aber ein echter Segen. Im Sommer können wir zudem das Sportschwimmbad des Nachbar-Compounds nutzen – allerdings für immerhin 100 DM pro Monat!

Nochmals zum Schutzraum. Eine der immer wieder erstaunlichsten und gleichzeitig lebenswertesten Eigenschaften Shanghais ist das immense Sicherheitsgefühl und die in der Regel große Freundlichkeit die man antrifft. In China gelten Shanghainesen als eingebildet – gegenüber Westlern lassen Sie dieses wohl nicht ganz so raushängen. Wir fühlen uns hier sehr gut aufgenommen.

Jiu Shi selber ist für uns eine Oase, ein Freiraum für die, die nicht immer nur den “Puls der Stadt” brauchen. Manchmal stinkt es in der Nacht, wenn irgendwo heimlich Plastikmüll verbrannt wird und im Sommer üben Mücken hier Formationsflüge - aber alles in allem ein wirklich guter Platz zum Leben.

In der direkten Umgebung gibt es (neben zwei weiteren Compounds) drei typische Vorstadtstrassen mit allen nur denkbaren Garagenshops, zwei Supermärkten, einem Friseur mit englisch sprechender Tochter sowie einen für hiesige Verhältnisse mittelgroßen, überdachten Markt (jedes chinesische Viertel hat seinen eigenen Markt, von denen einige beeindruckende Ausmaße und Angebotsbreiten haben). Mit diesem Angebot sind die Alltagsbedürfnisse schon abgedeckt.

In die eine Richtung geht es auf die Felder, in die andere gelangen wir zur Highway-Status besitzende, vierspurige Hu Qing Ping Gong Lu, die Shanghai mit dem Westen (eben der Vorstadt Qing Pu und weiter Zhujijao, Zouzhuang und dem Taihu) verbindet.

Diese vierspurige, regelmäßig verstopfte Haupt-Aus(-und Ein-)fall-Strasse, die demnächst dann aber endlich von einem neuen Highway entlastet wird,  ist unser Tor zur Stadt. Auf der Hu Qing Ping fahren ca. 3 Kilometer durch ein recht buntes Gemisch von einfachen Wohnvierteln, Compounds, zwei bekannten, noblen Riesen-Seafood-Restaurants und Gewerbebetrieben.

Dann erreichen wir den geschäftigen Platz Wu Jia Xiang. Hier gibt es ein mehrstöckiges Basargebäude, große Restaurants, einen beeindruckenden Markt, sowie eine sehr frequentierte Bushaltestelle, Anschlusspunkt zwischen Stadt- und Landbussen. Ein buntes Gemisch aus Pendlern, Kleinhändlern, Wanderarbeiterfamilien, Busbegleitern, die die Ziele Ihrer Busse ausrufen, hupenden Taxis und auf Kundensuche sich durch aussteigende Fahrgäste schlängelnde Motorrad-Taxis, die dichten Angebote von Markt und Basar geben dem Platz seinen derben aber auch lebendigen Charakter..

Über eine Abzweigung ist in Nachbarschaft des wirklich riesigen Satellitenstadtcompounds “Wan  Ke” ein Einkaufszentrum mit der Mall “Le Gou” und diversen Restaurants zu erreichen. “Le Gou” ist etwas größer aber im Angebot weniger westlich orientiert als der nachher noch angesprochene französische “Carrefour”-Markt.So gibt es z.B. keine frischen Käse, Wurst oder Schinken westlicher Prägung. Von uns mit dem Rad nocht gut zu erreichen kauft Frieder hier trotzdem ganz gerne ein, da das Angebot an Zutaten für die chinesische Küche wiederum sehr breit ist und die uns ja beiden sehr schmeckt.

Wir fahren aber weiter Richtung Zentrum. Wahlweise kann man sich vorstellen, das in einem Taxi, Minibus, scheppernden Stadtbus oder gar klimatisierten Doppeldeckerbus zu tun (der allerdings durchaus auch mal scheppern kann).

 

Ab Wu Jia Xiang wird die Hu Qing Ping neben Geschäften ca. 2 Kilometer  von Speditionen (wir sind mittlerweile direkt auf Höhe des Hongqiao-Flughafens) und Wohnblocks gesäumt, um dann den gewaltigen Knotenpunkt Hongqiao zu erreichen:

Insgesamt rund 40 Fahrbahnen auf etlichen Ebenen sortieren hier Stadtverkehr, den Flughafenverkehr, sowie den gesamten westlichen Fernverkehr.

Hier, ca. 15km, vor dem Zentrum beginnt die eigentliche Stadt, wird freier Raum rar, schachteln sich Wohnblöcke, Büro- und Hoteltürme immer enger in teils bizarren stilistischen Verbindungen ineinander. Auch nach Monaten, und wie viele versichern selbst nach Jahren, bleibt die hier beginnende Fahrt auf dem Highway durch Shanghai ein echtes Erlebnis, so etwas wie die fortlaufende Definition des Wortes “Stadt”.

Diesen “Flug” genießt man ca. 10 Minuten oder 5 Kilometer, dann erreicht man Gubei und damit, rund um einen großen Carrefour-Supermarkt eine weitere “Nebencity” mit vielen Geschäften und Restaurants – und ersten beeindruckenden Wolkenkratzern. Wir sind jetzt schon rund 10 Kilometer von Jiu Shi entfernt. 10 Kilometer sind schon ein ordentlicher Abstand, aber ein Pendelbuss verbindet Jiu Shi stündlich mit Gubei, was praktisch ist, denn neben den Geschäften finden sich in Gubei diverse (Top-)Hotels sowie diverse Edel-Compounds u.a. als einer der größten und bekanntesten: Mandarin City.

Von Gubei fährt der Pendel-Bus dann weiter zum nördlich gelegenen Mall-Centrum Xu Jia Hui. Hier finden sich an einer Kreuzung 6 ausgewachsene Malls, in denen man letztlich wirklich alles kaufen kann.

Gesamtfahrtzeit nach Xu Jia Hui: rund 1 Stunde. Von dort gibt es dann auch U-Bahnanschluss, durch den wir dann in spätestens 20 Minuten am Peoples Square und damit im Herzen Shanghais ist. Diese 1 ½ Stunden-Variante (Pendelbus-U-Bahn) kostet 0,60 Cents (und hiermit feiern wir die erste Verwendung des Euro als offizielle Währung auf dieser Momepage – gibts für soetwas nicht Fördergelder?).

Die direkte Taxifahrt ins Zentrum kann dank Highway bei guter Verkehrslage in 20 Minuten abgewickelt sein – kostet aber auch 15 Euro, was so gesehen (20 Kilometer) nicht viel ist, sich aber läppert.

So das alles beschreibt ein wenig unser Wohnen und Leben. Vielen sind wir zu weit draußen – und es ist sicher so, dass man sich einen kleinen Ruck geben muss, wenn man abends noch in die Stadt will. Aber da sind, glauben wir, eher wir, denn die Entfernung das Problem. Für fast nichts tauschen wollen wir die generell beachtliche Ruhe und unseren Arbeitszimmer-Blick, der mit ein paar Hütten im Winter zwar auch nicht wirklich schön ist, im Sommer aber mit den Bäumen, dem Fischteich und dessen umgebenden Damm echte Feng-Shui-Qualitäten (Baum-Wasser-Berg) hat. Manche kennen vielleicht den Effekt, an der Oberfläche eines Gewässers Wind und Wetter zu verfolgen, das ungemütliche Kräuseln bei stetiger Brise, oder die klare Ruhe eines wirklich schönen Tages. Zudem tut sich hier oft ein wenig chinesisches Alltagsleben: spielende Hunde, kleine Feldarbeiten, Fischen oder auch nur ein Schwätzchen am See.

Wie schon erwähnt haben wir in näherer Umgebung genügend Alltags-Einkaufsmöglichkeiten sowie eben den Friseur (Waschen, Schneiden mit 20 Minuten Massage 2,50 Eu). Mit Wu Jia Xiang und “Le Gou” sind in Radelreichweite fast alle weiter gehenden Einkaufswünsche abzudecken und zu guter Letzt gibt es ja noch den fast stündlichen Pendelbus in die Stadt. Eigentlich das einzige wirklich lästige ist, dass wir unsere Päckchen eben wegen der Qing Pu-Zugehörigkeit im rund 5 Kilometer stadtauswärts liegenden Xujing abholen müssen – aber ein bisschen Bewegung schadet nicht und wenn das Wetter mal wirklich widerlich ist, gibt es ja Taxen.

Dass zahlreiche Kollegen Sandras ebenfalls hier wohnen sorgt für kurze Wege zu diversen immer wieder gebotenen gesellige Anlässen – und es gibt auch einen Jiu Shi-Coffee-Morning und entgegen aller Unkenrufe bleibt Frieder ein Verfechter der Institution Coffee-Morning.

Wer noch genauer wissen will, wie es ist in Shanghai zu wohnen, der muss wohl herkommen... ;-). In diesem Sinne

Zaijian

 

Nachtrag 2005:

Jiu Shi ist mittlerweile um einen kompletten Bauabschnitt mit rund 100 zusätzlichen Villen bereichert worden - die Felder in der Umgebung sind leider Vergangenheit. Dafür ist der Markt im Zentrum ebenso gewachsen wie das Angebot des Club-Hauses, das mittlerweile Fitnesscentre, Massagen und ein gutes Restaurant umfasst. Die 2001 eher vogelwilde Zufahrtsstraße ist beleuchtet, wird nun beidseitig von Compounds gesäumt und bietet weiterhin reichlich ursprüngliche Läden und Restaurants. Die Deutsche Schule ist nur noch wenige Fahrtminuten entfernt. So hat Jiu Shi seinen Vorstadtcharme verloren, bleibt aber meiner (Frieders) Einsicht nach einer der Familiencompounds mit der höchsten Lebensqualität. Dies wird durch die günstige Lage bezüglich der westlichen Ausflugsziele wie Shi Shan, Zhu Ji Jiao, Zhouzhuan ebenso unterstrichen wie durch den mittlerweile eröffneten Carrefour in der Qi Xin Lu, den man mit Hilfe einer ebenfalls neuen Unterführung problemlos mit dem Rad erreichen kann (Letztere Punkte gelten natürlich auch für die anderen Compounds in der direkten Umgebung). Es gibt zentralere, neuere, es gibt schickere und es gibt “ursprünglichere”, aber in der Summe bietet Jiu Shi noch immer beachtliche Qualitäten, insbesondere für solche, die auch einmal eine Rückzugsgelegenheit und deutschen Kontakt suchen.

 

Nachtrag 2009:

Der Basar von Wu Jia Xiang ist leider Geschichte, dafür reiht sich auf der Qi Xin Lu mittlerweile Mall an Mall. Vor diesem Hintergrund fast kurios: Rund um den immer weiter romantisch einwachsenden Jiu Shi Compound finden sich zwar besser beleuchtet, ansonsten aber tatsächlich teilweise noch immer die gleichen urigen Garagenläden wie 2001.

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