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S u. F. Demmer
Shanghai Tagebuch
September 2001

Nimen Hao,

 nach den unerfreulichen Nachrichten aus der großen Welt ein hoffentlich erfreulicherer Blick auf uns hier ganz persönlich. Wir entschuldigen uns schon jetzt fĂŒr den etwas aus den Fugen geratenen Umfang, aber irgendwie schien uns alles halbwegs interessant - Ihr könnt ja in Etappen lesen.

 Wir können es kaum glauben, aber jetzt ist schon ein ganzer Monat vorbei. FĂŒr Sandra beinhaltet das die ersten Arbeitswochen und fĂŒr mich die ersten Alltagswochen mit Umgebung und Stadt erkunden, einkaufen, Wohnungsverhandlungen etc..

 Es ist anders, „in der Fremde“ zu wohnen, als „in der Fremde“ Urlaub zu machen. Im Urlaub haben wir alles Neue, Fremde aufgesogen, haben es gesucht. Hier im Alltagsleben suchen wir dagegen vorerst eher noch nach NormalitĂ€ten, Routinen. Am deutlichsten zeigt sich dieser Unterschied vielleicht in der Tatsache, dass wir bisher gerade 40 Fotos gemacht haben. In Nepal waren wir nach vier Wochen irgendwo bei 400 - und es ist ĂŒberhaupt nicht so, dass Shanghai keine Motive hergeben wĂŒrde, ganz im Gegenteil.

 Ja, das ist anders. Wie sehen die „Routinen“ nun aus:

 Zwischen sieben und halb acht schwingt sich Sandra aufs Rad und fĂ€hrt Richtung Schule - gut manchmal schwingt sie sich auch in Knuts Auto, aber netter ist einfach die Fahrradversion. Das Wetter prĂ€sentiert sich wechselhaft aber durchweg in wirklich freundlichen Temperaturregionen um die 30 Grad . Da braucht der Kreislauf morgens so seine Anlaufzeit, deshalb sitze ich dann gerne ersteinmal in unserem bis auf Kleinigkeiten fertigen Arbeitszimmer und schaue in den Morgen - und in die Mailbox. Vielen Dank an Alle, die uns da bedacht haben. Freut uns wirklich immer sehr.

Seit dieser Woche steht fest, dass wir in unserem Appartment in Jiu Shi (so heißt es nĂ€mlich richtig, sorry, Post mit Jiu Shu kam aber auch an) bleiben werden. Entgegen mancher Empfehlung haben wir auch keine weiteren Wohnungsbesichtigungen mehr gemacht. Es ging und geht uns nach wie vor zu gut hier, um da noch einmal viel Energie in Anderes zu stecken. BezĂŒglich der wenigen, kleineren MĂ€ngel haben wir ein Budget fĂŒr ErgĂ€nzungskĂ€ufe bekommen. Etliche Kollegen Sandras wohnen hier oder ganz in der NĂ€he. So sind auch wir geblieben, und dass abends die Grillen den grĂ¶ĂŸten „LĂ€rm“faktor darstellen wĂŒrden, hĂ€tten wir uns daheim nun wirklich nicht trĂ€umen lassen (selbst eingedenk der Tatsache, dass es hier jene bei uns vegessenen Grillen gibt, aus denen spĂ€ter wohl die MotorsĂ€ge gezĂŒchtet wurde - deren Baum hat jedoch ausreichend Abstand zu uns)

NatĂŒrlich fĂ€nde sich irgendwo ein besseres Apartment in einem exklusiveren Compound, aber das fĂŒhrt uns zu einem etwas irritierenden Kapitel:

Der Lebensstandard der allermeisten Expat(riot)s in Shanghai ist in sehr vieler Hinsicht deutlich höher als daheim. Sogar wir haben z.B. unsere WohnflĂ€che verdoppelt, obwohl wir uns am definitiv untersten Ende dieser „Kaste“ bewegen. Doppelverdiener mit Industrie- oder offiziell staatlichen VertrĂ€gen leben in beachtlichen Anwesen mit Design- oder Edelholzmöbeln, audiovisueller Komplettausstattung auf neustem Stand und zum Teil mehreren Hausangestellten (deren Stellen sind hier durchaus begehrt). Die Kinder sind in der Ganztagsschule versorgt, man genießt gemeinsam bis zu drei bezahlte Auslandsurlaube - Business-Class versteht sich... . Irritierend ist nicht dieser Luxus als solcher. Es gibt hier gerade fĂŒr Familien gegenĂŒber der Heimat so manche schwierige Rahmenbedingung, die ausgeglichen sein will. Aber in der Regel ahnt man das ja, bevor man hierher geht und daher ist schon erstaunlich, dass es trotz der wirklich zahlreichen Zuckerle bei so vielen immer noch weiter etwas zu mosern gibt. Da ist es dreckig und zu laut, chaotisch, die Chinesen (Hauspersonal, Handwerker...) sind zu langsam, zu ungenau, wollen einen nur abzocken (mit PfennigbetrĂ€gen gegenĂŒber monatlich fĂŒnfstelligen DM/$-GehĂ€ltern...), man will zwar sonntags einkaufen können, aber doch keinen BaulĂ€rm haben usf. usf... .  RĂŒckkehr hieße dagegen fĂŒr sehr viele tatsĂ€chlich: Abstieg vom Besonderen zum Irgendwer - Eine Mutter in Sandras Schule beschrieb eine kurze Zeit in Deutschland kurz und treffend: kleinere Wohnung, plötzlich alle Hausarbeiten wieder selber machen, die Kinder mittags daheim - vom Wetter gar nicht zu reden... . Kaum wieder in Shanghai, ist es dann aber auch nicht mehr recht. Zu beachten bei diesen Nörgeleien ist sicher, dass es einige gibt, die zum Teil seit Jahren von China und Shanghai ĂŒberfordert sind, letztlich wirklich leiden, ohne dass irgendein Chinese etwas dafĂŒr könnte. Ganz wichtig aber zum Abschluss - es gibt natĂŒrlich auch Expats, die ihre besondere Lage sehr klar und nĂŒchtern im Blick haben und auch wir haben auch schon geflucht und werden das sicher auch wieder tun. Insgesamt genießen wir jedoch vorrangig die schönen Seiten unseres „neuen“ Lebens und harren wirklich gewichtiger Nachteile.

Einer der wenigen zur Zeit offensichtlichen Nachteile ist tatsĂ€chlich BaulĂ€rm. Zwei Villas gegenĂŒber unseres Apartments werden totalrenoviert - tagsĂŒber heißt wie schon angedeutet sieben Tage die Woche - aber letztlich bleibt alles in ertrĂ€glichen Grenzen, der morgendliche Blick auf den Fischweiher, die Ruhe in der Nacht bieten ausreichend EntschĂ€digung.

Was tut sich sonst:: Möbelkauf! Unser ursprĂŒnglicher Esstisch ist ganz unvermittelt zum Schreibtisch geworden. BĂŒromöbel mit halbwegs solidem Standard sind hier nĂ€mlich unverhĂ€ltnismĂ€ĂŸig teuer - logisch, denn die meisten, die hier so etwas kaufen, mĂŒssen eben nicht so aufs Geld schauen. Hauptgrund fĂŒr unsere Umwidmung war aber, dass wir bei Milimeterpapierschablonen-Schiebereien feststellten, dass Kollege Esstisch genau das verzweifelt gesuchte und bei IKEA-OBI-Metro-(gibt es alles Drei hier !)-Shimao-Noble-etc.- Furniture nicht gefundene Schreibtisch-Idealmaß hatte. So steht er jetzt vor dem Arbeitszimmer-Fenster und ein einfaches kleines Ikea-Ivar-Segment adelt das Ganze zur Eckkombination. Einen brauchbaren Esstisch zu finden war erwartungsgemĂ€ĂŸ einfacher und preiswerter. So sind wir jetzt sogar noch in unserem Budgetrahmen.

 Ein wichtiges Thema - natĂŒrlich noch mehr fĂŒr mich als fĂŒr Sandra - da quasi neben HausmeistertĂ€tigkeiten mein Beruf - ist Einkaufen: Kleinaustattungen aber eben auch Essen und Haushalt etc.. Erst diese Woche waren wir im augenblicklichen Highender unter Shanghais Malls: eine riesige Stahl-Glaskuppel ausgefĂŒllt von einem Mega-Mobile bilden das Zentrum, um das herum in sternförmigen Fluren hunderte von GeschĂ€ften auf 5 (oder waren es 6) Etagen gruppiert sind. An der entsprechenden Straßenkreuzung Xujiahui (S-chĂŒdschachui) stehen fĂŒr den Unentwegten gleich drei weitere Malls. So wenig man das mit China verbunden hĂ€tte, so zwingend gehören die Malls ins 17-Millionen-Boomtown-Image Shanghais.

 Eine chinatypischer anmutende Freude ist die Breite des Warenangebotes in GaragenlĂ€den, MĂ€rkten und Basaren. Bei westlichen KonsumgĂŒtern oder Unterhaltungstechnikprodukten gibt es zwar Einbußen an QualitĂ€t, beim Design sind dagegen sehr gelungene Plagiate westlicher Edelprodukte zu erwĂ€hnen, insbesondere Hifi-RöhrenverstĂ€rker in schweren Chrom und MetallgehĂ€usen - das mit dem Hifi im engeren Sinne wĂ€re natuerlich noch zu testen. DarĂŒber hinaus sieht man in den Basaren wirklich schön bis nennen wir es gewöhnungsbedĂŒrftig gestaltete heimische Produkte, vom traditionellen Handwerk bis zum schreiend bunten Honkongramsch.

 Summa summarum, Shanghai macht seinem Ruf als eine der absoluten Shopping-Hochburgen Asiens wirklich alle Ehre. Es gibt hier bis auf ganz, ganz wenige Ausnahmen absolut alles und in allen QualitĂ€ten. Nur wenige Sachen sind dabei teurer als daheim, was da bisher waeren spezielle Kosmetikartikel, KĂ€se, Kaffee und eben BĂŒroeinrichtungen inclusive PC‘s: Das hĂ€tte wirklich schlimmer kommen können...;-). Als Ausgleich zu diesen „Kostentreibern“ gibt es reichlich Bekleidung in der vielleicht aus der TĂŒrkei bekannten „billig-und-fast-echt“-QualitĂ€t und z.B. CD’s und DVD’s bis zum Abwinken. Der Lonely Planet FĂŒhrer rĂ€t passend: ein echter Shanghai-Urlaub braucht ein Einkaufsbudget. Aber Achtung: Was man in den Basaren mal bezahlt hat, erkennt der VerkĂ€ufer im Zweifelsfall nie mehr wieder, wobei es hier auch andere Beispiele gibt.

 ZurĂŒck zum Wetter. Das ist wie gesagt erfreulich, aber körperliche BetĂ€tigungen wie kleinere Reparaturen werden bei 80-90% Luftfeuchtigkeit umgehend mit sintflutartigen SchwitzanfĂ€llen bestraft. Mittlerweile denke ich daran, T-Shirt oder Hemd vorher auszuziehen, statt es nach zwei Minuten zum Trocknen zu hĂ€ngen - Sandra nimmt ein Ersatzshirt mit in die Schule.

 Sie hat mittlerweile durch Wohnviertel und GĂ€rten einen ertrĂ€glichen Fahradweg zu ihrer neuen WirkungsstĂ€tte ausgekundschaftet, . „Idyllisch“ sieht nach heimischen Vorstellungen angesichts asientypischer, offener MĂŒllhaufen und stinkender KanĂ€le zwar zunĂ€chst doch anders aus und ich war anfangs gar nicht ĂŒberzeugt - aber wenn man die Hu Qing Ping Gong Lu, die Hauptstraße, mal etwas bewusster entlanggefahren ist und dann auf Sandras Route einschwenkt, der LĂ€rm rapide abnimmt und man immer wieder aus TĂŒren, von BĂ€nken, aus kleinen GĂ€rten freundlich angelĂ€chelt wird, oder man auf dem Hinweg durch die DĂŒfte der Imbisse  fĂ€hrt, dann ist Idylle doch gar nicht mehr so unpassend. By the way, so ganz haben wir den chinesischen Rhythmus noch nicht gefunden (und vielleicht auch deshalb Wechsel-T-Shirts nötig): Der Chinese als solcher radelt einfach langsamer!

 Sandras Schule passt sehr gut - mit einer wiederum Shanghai-typischen Spanne von absoluten Highlights (Apple i-books fĂŒr den Informatikunterricht ab der ersten Klasse) bis zu wirklich befremdenden Notlösungen (Turnhalle mit per Paketband fixierten, fröhliche Wellen schlagendem Furnierboden, auf dem zuletzt noch 30 Bauarbeiter nĂ€chtigten). Das Kollegium ist wirklich nett und Sandras (13-köpfige!!!)-Klasse auch. Es gibt wöchentliche Konferenzen, die sich jedoch weitgehend in organisatorischen Standards erschöpfen. Der erste Elternabend ist ebenfalls vorbei und die nach ersten Kontakten doch befĂŒrchteten Fragen hochverwöhnter Expateltern blieben erfreulicher Weise aus. (Schaut doch mal aufhttp://www.ds-shanghai.org.cn/Klassen/KLasseFrame.htm). Unsere von meinem Bruder gestaltete Shanghaihomepage exisiert uebrigens mittlerweile auch, ist jedoch noch zwecks Aufbau verkennwortet und wird dann demnĂ€chst irgenwann feierlich „eröffnet“.

 Das fĂŒhrt uns zum schon im ersten Brief angekĂŒndigten Punkt Kommunikation und Internet. Mittlerweile haben wir fĂŒrs Internet drei  Einwahlmöglichkeiten, „aol globalnet plus“, der Shanghaier Anbieter „Gosun“ und eine unbetitelte, chinesische Call-by-call Nummer. Allesamt funktionieren, die chinesischen Provider bieten auf analoger Basis sehr beachtliche Übertragungsraten. Dies, zusammen mit Fax, Telefon, jetzt auch in China einsatzfĂ€higem Handy (absoluter Volksport) sowie fortlaufender TV- und Radio-Information ĂŒber westliche Satellitensender kann man dann wohl getrost als optimal bezeichnen. Internet findet sich in China im Übrigen bis in die hintersten Landstriche, irgendwo steht immer ein einfacher Rechner mit Internetanschluss. So wurde uns zumindest von rundreisenden Freunden aus Kempten erzĂ€hlt, die wir hier - wie kann es anders sein - absolut zufĂ€llig in der FußgĂ€ngerzone trafen!!!! Weitere Quellen besagen, das sich die Userzahlen alle sechs Monate verdoppeln und noch in diesem Jahrzehnt China das Land mit den weltweit meisten InternetanschlĂŒssen werden wird . Pornographie und wohl auch politisch FragwĂŒrdiges wird zensiert - was die politischen Informationen betrifft, so sind westliche Magazin- oder Nachrichtenseiten jedoch problemlos zu erreichen und die diesbezĂŒglichen EinschrĂ€nkungen werden wohl nur bei intensiver Auseinandersetzung mit absolut kritischen Themen bemerkbar, waren fĂŒr uns bisher nicht wahrnehmbar. Was die Pornographie betrifft, so vereinfacht deren Fehlen die Arbeit im Netz merklich.

 Soviel zu Shanghai nach einem Monat. Zur Feier des Tages waren wir heute in Zhouzhuang (Tschuootschuang), einem wirklich reizenden, bis vor wenigen Jahren nur mit dem Boot erreichbaren, von etlichen KanĂ€len durchzogenen StĂ€dtchen mit durch die Abgeschiedenheit vollstĂ€ndig erhaltenem, rund 300 Jahre altem Stadtkern. Die dortige SpezialitĂ€t ist - der Bayer staunt, der Schwabe kichert: Schweinshaxe!! Es heisst: ohne Suti, kein Fest. Allerdings wird diese hier 24 Stunden in eine leicht suessliche Marinade eingelegt, sehr langsam im Ofen gegart und in einem dunklen Fond serviert. Dass man zum Zerlegen den kleineren Haxenknochen nimmt beantwortet alle Fragen zum Thema Konsistenz. Eine herrliche Delikatesse, die in ungefĂ€hr tausendfacher AusfĂŒhrung die Straßen entlang angeboten wird, was einen verfĂŒhrerischen Duft ĂŒber die ganze Altstadt legt. Es sei jedoch auch gleich angemerkt, dass man bei diesem Festmahl im Restaurant deutliche Abstriche an westliche Hygiene und GestaltungsansprĂŒche in Kauf nehmen muss. Durchaus originell ist die Geschichte der Wiederentdeckung dieses Kleinodes und AnwĂ€rters auf die Aufnahme in die Liste des Weltkulturerbes (der Stadt - nicht der Schweinshaxe!!): Ein chinesischer Kunststudent in den USA malte aus Heimweh seinen Heimatort. Dieses Bild brachte es ĂŒber eine Ausstellung, einen amerikanischen MilliardĂ€r, der es Deng Xiaoping schenkte, bis auf die Titel-Seite eines UN-Berichtes - und dann wollten die Leute natĂŒrlich wissen: Wo ist denn das? Es liegt rund anderthalb Autostunden von Shanghai, alle zwei Stunden fĂ€hrt ein Bus quasi an unserer HaustĂŒr vorbei. Ein Ziel, dass wir sicher noch öfter ansteuern werden.

Weiteres wird folgen - und ziemlich sicher auch wieder „SpektakulĂ€reres“... - aber wie gesagt, hier wohnen ist anders als Urlaub.

Zaijian sagen Sandra und Frieder

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Frieder Demmer: China-Beratung, Training, Coaching