Guiyang – hinter den Bergen…
… bei den sieben Zwergen - das legt uns die Literatur nahe zu sagen, wenn irgendetwas zwar begehrenswert aber unerreichbar erscheint.
Leicht resigniert nehmen die Bewohner von Guiyang zur Kenntnis, dass die Menschen im Westen sowohl ihre Provinz Guizhou und noch viel mehr Guiyang,
Hauptstadt dieser Provinz, hinter mindestens sieben Bergen vermuten. Verständnisvoll entgegnen sie dann: „Würden wir eine Landeshauptstadt bei Euch kennen?“
Gut diese Landeshauptstadt hat immerhin rund 3,6 Mio. Einwohner und 1000 Jahre Geschichte, ihr neuester Wolkenkratzer wird ĂĽber 200m in den Himmel ragen -
aber in China ist eben alles etwas größer - also: Verständnis!
Dann mĂĽssen die Guiyanesen zudem zugeben: So ganz abwegig ist die Sache mit den Bergen gar nicht:
Guiyang liegt weit im Süden Chinas, unter den „Urprovinzen“ Sichuan und Gansu sowie der “Zuckerhut”-Provinz Guangxi, umschlungen von genau jenem Zug
von spektakulären Karstbergen, der bei uns die Stadt Guilin zu einem Inbegriff Chinas gemacht hat. In Guiyang sind diese Berge sogar noch deutlich größer. Warum widmen wir im Westen nun dem „teuren Wald“ (Gui
Lin) so viel mehr Aufmerksamkeit, als der „teuren Sonne“ (Gui Yang)?
Ein kleiner Punkt: Die Berge um Guiyang ragen bis zu 500 Meter auf und sind damit deutlich mächtiger, als ihre Kollegen am Li-Fluß. Dadurch sind sie zum
Teil nicht ganz so pittoresk. Das mag ein kleiner Grund sein, aber nur ein wirklich kleiner, denn es bieten sich immer noch genĂĽgend wirklich reizvolle Perspektiven.
Was für Guiyang zum Schicksal wurde, ist von ganz anderer Natur – diese Berge, in genau dieser Größe, stellen für jeden feindlich gesinnten
Heeresführer einen wahren Alptraum von teils nur wenige Meter breiten Talsolen und unüberwindlich steilen Hängen dar. Schon ein Kaiser der Südlichen Ming suchte und fand hier nach seiner Absetzung eine letzte
Zuflucht und ĂĽberlebte.
Sogar den Eindringlingen modernerer Zeiten, die sich in die Luft aufschwangen, konnte diese natürliche Festung zunächst auch Paroli bieten: Bis zu 200 Tage
im Jahr ziehen mystische Nebel über Guizhous Hügel und durch seine Täler. Dies ist der etwas ernüchternde Ursprung des strahlenden Namens der Hauptstadt: Teure Sonne – glücklich wer sie sieht!
An all diese Dinge erinnerte man sich auch in höchsten Kreisen nach der Revolution und platzierte folgerichtig rund um Guiyang bedeutende Teile der
chinesischen Rüstungsindustrie. Noch bis in die 70er Jahre fristeten dabei viele der talentiertesten Ingenieure des Landes ein höchst eigentümliches Dasein: Direkt von der Uni wurden sie mit ihren Familien in
kleine Dörfer in den undurchdringlichen Berglandschaften gesendet und lebten fortan unter allereinfachsten Bedingungen, weitgehend abgeschirmt vom normalen Fortgang der Welt. Im Angesicht von Bambuswäldern und
Wasserbüffeln sollten sie dort Waffen entwickeln und montieren, bis hinauf zu Düsenjägern, Waffen für den stets bang erwarteten „Großen Krieg“ – entweder mit Russland oder den USA.
Doch im Zeitalter von Satteliten und Lenkwaffen wurde dieses Versteckspiel mit seinen Entbehrungen und auch schlicht enormen logistischen Aufwand
schlieĂźlich absurd.
Eine Fabrik nach der anderen wird nun geschlossen, bzw. verlegt. Guiyang beschert diese Episode im Niemandsland der Geschichte heute zum einen ein
Strukturproblem, zum anderen aber einen für eine Landprovinz ungewöhnlich hohen Anteil an hoch talentierten und gebildeten Familien aus allen Teilen des Landes. Doch was damit tun?
Neben der Rüstung prägt Bergbau als zweite Industrie die Provinz – wie wir in Deutschland nur zu gut wissen auch nicht gerade eine Bank auf die
Zukunft.
Dann gibt es da noch reichlich traditionelles Kleinbauerntum. Allgegenwärtig die Bauern mit ehernen Hacken auf ihren Feldern, Frauen, die barfuß Reis
versetzen, und WasserbĂĽffel die auf schmalen Stegen unbeirrbar dahin ziehen.
Aktuell ist Guizhou damit je nach Quelle die ärmste oder zweitärmste Provinz des gewaltigen Landes. Aber das, was die Provinz lange dazu verdammte, ein
Dasein im Verborgenen zu fristen, soll nun der Hoffnungsträger werden:
Die Berge, die Nebel, die FlĂĽsse!
Guizhou träumt vom großem Tourismus, träumt davon, dass zukünftig nicht nur zigtausende auf dem Li-Fluß von Guilin sich dahin schaukeln lassen,
sondern endlich in die weit verzweigten Täler ihrer Berge einkehren und busseweise gebannt auf das je nach Jahreszeit filigran wehende oder aber allmächtig brodelnd, donnernde Schauspiel des über 70 Meter hohen
und knapp ĂĽber 100 Meter breiten Huangguoshu Wasserfalls schauen. Der Wasserfall ist nicht mehr und nicht weniger als ein Naturschauspiel von kontinentalem Rang, das dabei aber bislang an 99,99% der westlichen
China-Reisenden vorĂĽber geht!
Das gilt es zu ändern! Heute „rüstet“ man in ´Guizhou nicht mehr mit Stahl, heute „rüstet“ die Hotelindustrie. Zuletzt eröffnete das Guiyang
Sheraton und dass in den schon erwähnten, neuesten, über 240m hohen Wolkenkratzer der Stadt 2009 auch noch das Kempinski einziehen wird, wollen die Guiyanger als erstes und dabei deutliches Zeichen der
Erreichbarkeit ihrer Träume sehen!
Guiyang selbst nennt sich auch die “Grüne Stadt” oder„Stadt der Gärten“ – was dem unbedarften Europäer zunächst höfliches Unverständnis
entlockt, findet man sich doch schon nach kurzer Fahrt vom Flughafen (der für seine Verspätungen berüchtigt ist), eingeschlossen von undurchdringlichen Hochhaus-Reihen, die in der Enge ihrer Staffelung den
Gedanken an Gärten als Wunsch verständlich, als Image aber eher unglaubwürdig erscheinen lassen.
Doch irgendwann biegt man dann in die weit gespannte Platanenallee der Yuanshu Lu ein. Man stockt. Diese fĂĽhrt zum fĂĽr uns immer noch eher wenig kleidsam
wirkenden Tor des „Guiyang Intelligence Park“ - aber immerhin Park! Der Name bezieht sich auf einen Berg – ein Berg, der Teil eines Parks ist? Damit ahnt man schon die Dimensionen dieses ganz speziellen, nur
10 Minuten vom Stadtzentrum entfernten
Naherholungsgebietes. Nach weiteren 10 Minuten FuĂźweg findet man sich komplett abgetaucht in die Bergwelt Guizhous: Die Wucht und Enge der 3-Millionen-Stadt? Verschwunden, Schall und Rauch!
Senioren üben sich im Tai Qi, spielen in wildromantischen Waldnischen Karten oder halten einfach ein entspanntes Schwätzchen: You Shi, you Shu, you Shui.
Über steinerne Treppen und vorbei an zahlreichen kleinen Stelen, begleitet von wilden, mal putzigen mal eher aufdringlichen Affen läuft man zum malerisch in einem Bergsattel gelegenen, Hongfu-Tempel – und, wer
will und genügend Zeit hat, zieht weiter bis zu jenem von Berghängen eingerahmten See, der DAS Sommerrefugium der Stadt ist – inklusive über 1000 Meter langer Sommerrodelbahn deutschen Entwurfes. Da ist sie
endlich da, die Stadt der Gärten, Guiyang, so erlebt, ein Rohdiamant.
Nachmittags - wieder im Stadtzentrum - schaut man aus dem alten Ming-Tempel bei einem klassischen Tee über die Häuserfronten. Nach Sonnenuntergang genießt
- wer kann - die Atmosphäre und das bunte Spektrum herzhafter Speisen auf einem der Nachtmärkte oder aber lauscht im Spezialitäten-Restaurant den facettenreichen Harmonien der Dong-Gesänge.
So nimmt der Traum der Menschen von Guiyang dann doch auch für uns vorstellbare Formen an – und man wünscht ihnen von Herzen, dass die Zeiten des sich
verstecken müssens tatsächlich für immer vorüber sein mögen.
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