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Nanjing: Glanz und Elend einer außergewöhnlichen Stadt
Mauern, düster aufragende Mauern von unüberwindbarer, unantastbarer Größe. Keine ausgefeilte Festungsanlage mit sternförmig sich gegenseitig absichernden
Vorposten – nein, schmucklose Giganten, Felswände von Menschenhand, die sich über 20 Kilometer erstrecken – bleib wo Du bist, dies ist des Kaisers Platz!
Nanjing, 2500 Jahre alt, im 14. Jh. erste Hauptstadt der Ming Dynastie. Die Mauern und die Ausmaße des verfallenen Palastkomplexes, der der verbotenen
Stadt in Peking als Vorbild gedient haben soll, lassen erahnen, wie glanzvoll die Zeit der Ming wohl war. Steinerne Tiere, Soldaten und Beamten bewachen das Grab des Kaisers Hong auf dem Purple Mountain – wie sie
auch die Ming-Gräber in Peking bewachen, denn nur 70 Jahre währte Nanjings Kaiserruhm, dann wurde Peking wieder Hauptstadt, Naning blieb der wenig befriedigende Titel einer „Zweiten Hauptstadt“. Aber etwas vom
alten Glanz umgibt die Stadt bis heute.
500 Jahre später, 1853. Im Zuge des Taiping-Aufstandes und noch immer im Schutz der Ming-Mauern ruft der wahnhaft-christliche Sektierer Hong Xuequan in
Nanjing einen obskuren Gottesstaat aus. Hong schafft eine Welt geprägt von spartanischen Gleichheitsgrundsätzen nach innen und rassistischem Kreuzzugfanatismus nach außen: Die Mandschuren Nanjings werden von
Hongs Anhängern als Dämonen umgebracht. Hong will mehr als nur Nanjing und er setzt auf die Westmächte, um seine vermeintlich christlichen Ideen über ganz China verbreiten zu können – doch denen ist die
Bewegung nicht geheuer. Als Hong 1864 stirbt nehmen kaiserliche Truppen die Stadt ohne großen Widerstand ein - 100.000 Anhänger des „Himmlischen Königreiches“ begehen zuvor Selbstmord, der eigentümliche Spuk
nimmt ein ebenso abruptes wie gruseliges Ende.
Doch das dunkelste Kapitel in Nanjings Geschichte sollte noch ausstehen. Dezember 1937 - die Mingmauern sind nur mehr Symbol ehemaliger Größe - erobern die
Japaner die Stadt. Es folgt eine Explosion der Grausamkeit, von Menschen verübt, diesmal aber wirklich von dämonischen Ausmaßen. Nanjing wird für 6 Wochen zur Hölle auf Erden. Allein 20.000 Frauen im Alter von
11 bis 76 werden vergewaltigt oder wenn sie sich wehren mit Bajonetten bestialisch zu Tode gequält: 6 Wochen lang ununterbrochen Enthauptungen, Verstümmelungen, Folterungen – wahllos: Kinder, Alte,
Feldarbeiter, Mönche. Im heutigen Memorial-Ground wandert man von Gedenkstein zu Gedenkstein, jeder steht für eine eigene Gruppe, einen eigenen Ort, ein eigenes Drama, da sind es 12, da 100, da 10.000. So bekommt
die Zahl 300.000 mit jedem Stein, jeder Geschichte mehr und mehr Kontur, verliert die abstrakte Größe - bis man keinen weiteren Stein mehr sehen will, kann.
Was die japanischen Befehlshaber trieb, ihre Truppen in diesen anhaltenden Blutrausch zu versetzen, was die Soldaten die nach wenigen Tagen unvorstellbaren
Zustände und Anblicke weiter ertragen und immer noch weiter verschlimmern ließ, kann man heute nicht mehr fassen. Tatsächlich waren Vergewaltigungen und Folterungen Bestandteil „normaler“
Demoralisierungsstrategien asiatischer Kriege - aber die Taten von Nanjing sprengten jeden Rahmen.
In Japan unterliegen das Nanjing Massaker, das Menschen-Versuchslager bei Harbin und weitere Kriegsverbrechen in China einer ähnlichen Diskussion wie die
Taten der Nazis in Deutschland. Aktuelle Argumentationslinien, die sagen, man dürfe in Nanjing nur die ersten paar Tage der eigentlichen Eroberung in Betracht ziehen und das in dieser Zeit ja nur 40.000 Menschen
umgebracht worden seien, zeigen welches Maß an geistiger Verwirrung dabei nach wie vor auch in Japan erreicht wird. Der Zeitraum von 6 Wochen als Zeit des Massakers ergibt sich im übrigen u.a. aus
zeitgenössischen Berichten deutscher Diplomaten. Das ändert nichts daran, dass 2002 für Japans Schulen ein weiteres Mal ein Geschichtslehrbuch zugelassen worden ist, das den “Nanjing-Vorfall” nur beiläufig
erwähnt und ansonsten Japans Rolle im 2. Weltkrieg als eine Art unglücklich gescheiterte Heilsbringung für Asien darstellt. Man sieht, nicht nur wir haben Probleme mit der Vergangenheitsbewältigung.
Nanjing hat überlebt, braucht aber bis 1968 um wieder zurück zu kehren in die erste Riege chinesischer Großstädte. Die „Nanjing Changjiang Da
Qiao“ - die große Brücke über den Jangzi, ein infrastruktureller und architektonischer Meilenstein für die Volksrepublik, bringt den erneuten Durchbruch. In 10 stählernen Bögen, die zwei Bahnlinien und
darüber einen vierspurigen Highway tragen, überwindet die Brücke erstmals so nah der Mündung den immerhin rund1,5 km breiten Strom, was als eine Art Vereinigung Nord- und Südchinas gefeiert wird. Die
Gesamtlänge der Brücke beträgt 6 Kilometer. Vor zwei Jahren wurde stromabwärts eine zweite Brücke eingeweiht und dieses Jahr ein neuer internationaler Flughafen eröffnet. BASF baut aktuell ein großes Werk -
on the road again.
Und so präsentiert sich Nanjing heute mit rund 4,5 Millionen Einwohnern in typisch chinesischer Boomtownmanier: In Spiegelfassaden spiegeln sich
Straßenküchen, nagelneue 7er-BMWs überholen dreirädrig rappelnde Tuktuks. Wo renovierbar ersteht die Altstadt neu, wie z.B. im schrill-bunten Glanz des Fuzimiao-Viertels, wo früher leichte Mädchen auf Schiffen
besucht werden konnten – heute braucht es keine Schiffe mehr, aber das ist natürlich streng inoffiziell.
Wo nichts mehr zu retten ist ducken sich die dunkel winzigen Häuschen hinter peppig gestaltete Blenden oder weichen ganz weiteren stahl-gläsernen
Vorzeigebauten.
Und wem das alles zu dicht und zu eng wird, der flüchtet durch das Westtor, folgt zunächst den Mauern, dann den steinernen Grabwächtern, um ebenfalls
wie eh und je auf dem Purple Mountain vom Red Cloud Pavillion aus den Sonnenuntergang zu beobachten – und dann ist die Stadt mit all ihren Geschichten plötzlich ganz weit weg.
Nanjing - sicher einer der interessanteren Orte um in China zu leben.
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