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S u. F. Demmer
Unterwegs in China
Putuoshan

Putuoshan

– einmal out of SARS und zurück

 Es ist mitten in der Nacht, irgendetwas hat mich geweckt. Mein Hals kratzt, mir steht kalter SchweiĂź auf der Stirn und schon schieĂźt mir jede Menge Adrenalin in die Blutbahn – nicht dass ich SARS-Angst hätte, aber: „Oh nein, alles nur keine Erkältung – nein, das darf nicht wahr sein. Ich darf jetzt einfach keine Erkältung kriegen! Ich wandere auf der Heimfahrt doch direkt in die Quarantäne. Du meine GĂĽte – das wäre es nicht wert!“

 Ort des Geschehens:

Ein Standard-Double im Citic Putuo Hotel auf der Insel Putuoshan vor Ningbo im Ostchinesischen Meer. Zeit: 27. April 2003. Es ist SARS-Zeit in China. Die letzten Tage in Shanghai: SARS im Fernsehen, an der Uni, im German Center, im Taxi – überall. Wir hatten einfach die Nase voll und so kurzer Hand drei Tage Flucht auf Putuoshan gebucht. Der einfache Plan: Mit der Nachfähre hin, am Montag Nachmittag mit dem Speedboat und einem Bus zurück. Nur raus hier, den Kopf frei kriegen bevor man noch anfängt stündlich Fieber zu messen.

 Die Idee als solche war ja gut – allein als wir dann mit Gepäck im Taxi saĂźen dachten wir plötzlich: „Ist es wirklich klug, sich 12 Stunden auf eine Nachtfähre zu begeben? Die wird auch klimatisiert sein... . Und Putuoshan? Eine Insel? Was, wenn es dort einen Fall gibt? WĂĽrde man in Shanghai sicher nicht erfahren haben... . Noch gilt Shanghai als einer der sichersten Plätze Chinas. Und schon war es wieder im Gange, das Räderwerk des Schutzdenkens. Von ‚zig Zeitungsmeldungen, Mails, Fernsehberichten, Anrufen, Gesprächen in Schwung gebracht – und mittlerweile fester Bestandteil des Alltags. Wir fahren aber trotzdem weiter bis zum Bund.

 

Der nächste Schritt: Warten - warten in der wahrlich tristen Wartehalle für die Nachtfähre am Bund. Eine Frau hustet und stützt sich anschließend schwer atmend an die Wand – wir schauen uns kopfschüttelnd an. Sie dreht sich um – reibt ihren Rücken: „Gliederschmerzen!“ – aber dann schütteln wir nochmals den Kopf: „RUHE BEWAHREN!“ Wieder wandern die Blicke zur immer noch stehenden Frau. Jetzt setzt sie sich wieder . Kein weiterer Huster. Sie sieht müde aus. Jetzt steht sie wieder auf, reibt sich den Rücken – geht hin und her... . – „Rückenschmerzen!“, schießt es uns durch den Kopf: „Sie hat schlicht Rückenschmerzen. Ja, so sieht jemand aus, der wirklich schlimme Rückenschmerzen hat.“

 Es ist zwanzig nach sechs. Auf unserer Karte steht 18:00 Uhr Abfahrt. Die Einweiser haben uns trotz zweimaliger Nachfrage in einen Abschnitt der Wartehalle geschickt an dem ein Schild 19:00 Uhr hängt. Es gibt noch eine Sektion, dort steht 18:30 – nirgendwo 18:00. Nicht, dass wir das auf irgendeiner Reise in China bisher anders erlebt hätten – aber man hofft doch immer wieder von Neuem, dass es einfach mal einfach sein könnte. Ok, Karte raus und zu einem freundlich guckenden Chinesen gegangen. Mittlerweile sind beim 18:30-Trakt die Tore geöffnet worden. Die Menschen gehen raus zum Boot. Es sind nicht zu viele – SARS scheint auch hier „zu wirken“. Der wirklich freundliche ältere Herr schaut auf seine Karten: Dort steht 18:30 Uhr. Ich laufe herĂĽber zum anderen Trakt – frage den Einweiser, zeige unsere Karten – und werde wieder zurĂĽck verwiesen. Wird wohl stimmen.

 Im Tagesrucksack stecken die Atemmasken, die uns Sandras Eltern geschickt haben.  Ungefähr ein FĂĽnftel der Wartenden tragen Masken. Jetzt scheint uns das ĂĽbertrieben, da die Halle wie gesagt alles andere als ĂĽberfĂĽllt ist – aber was, wenn es auf dem Weg zum Schiff zu Gedränge kommt?

 Letztlich kam es zu keinem Gedränge und die Masken blieben im Rucksack – aber ich kann mich nicht erinnern bisher in meinem Leben eine solch seltsame Form von fortlaufend nicht genau lokalisierbarem Druck erlebt zu haben.

 Im Schiff haben wir als erstes die zentrale LĂĽftung zu gemacht und das Fenster geöffnet. Um 19:15 legt die Fähre ab. Wir blicken auf den strahlend beleuchteten Bund und lassen die Szenerie der geschäftigen Hochseedocks an uns vorbei ziehen. Erste Entspannung. Gegen 20:00 Uhr werden wir freundlichst zum Fiebermessen gebeten. Noch einmal holt „der Feind“ uns ein – aber alles ok. Puh... .

 

Gegen 21:00 biegt die Fähre in die Jangtzemündung. Lichterketten am weit entfernten Ufer. Riesige Frachtschiffe ziehen teils in Festbeleuchtung ein grandioses Bild liefernd, teils nur mit Positionslichtern als düster diesel-wummernde Riesen vorbei – trotzdem scheint es uns, als ob jedes dieser Schiffe einen Teil unseres Druckes mit sich nimmt. Wir merken, wie mit Shanghai auch SARS hinter uns bleibt – so wie wir es erhofft hatten. Im Angesicht der weiten, ruhigen, dunklen Wasserflächen beruhigen sich auch unsere zuletzt immer rastloseren Geister zusehendst. Wir werden müde, sehr müde – und schlafen ein.

 Wir kamen gut an in Putuoshan und einen ganzen traumhaften, strahlenden Tag hatte ich wirklich ĂĽberhaupt nicht mehr an SARS gedacht – und jetzt, mitten in der Nacht hat mich die Angst wieder eingeholt.

 Ich setze mich auf. Nein, ich fĂĽhle mich wirklich nicht gut. Ich gehe kurz ins Bad – schlucke eine Vitamin C-Tablette. Der kurze Gang beruhigt. Ich muss geträumt haben. Es geht mir gut. Der kalte SchweiĂź geht, ich fĂĽhle mich wieder wohl und warm – heidernei – was ein Schreck... . Aber diese Seite unseres kleinen Ausbruchs hatten wir uns einfach nicht bewusst gemacht, war uns erst durch die Fieberkontrolle auf der Fähre bewusst geworden: Was wäre wirklich gewesen, wenn ich mir im Reizklima der See eine Erkältung geholt hätte und damit durch eine Fieberkontrolle gemusst hätte? No Risk no fun – mag ja sein, aber dieser SpaĂź hätte dann eindeutig ein Loch gehabt... .

 Genug! Denn es gab auch die andere Seite dieser kleinen Reise.

 Nach der Nachtfahrt hatten wir gegen 7:00 Uhr im Hotel eingecheckt. DrauĂźen war es noch ein wenig diesig gewesen, so hatten wir uns noch einmal auf’s Bett gelegt. Jetzt ist es zehn Uhr. Wir schauen aus dem Fenster erstmalig wirklich bewusst auf „Buddhas Meeres Himmel Land“, Hai Tian Fo Guo. Und schon im ersten Blick erschlieĂźt sich uns Putuoshans zweiter Name auf die erfreulichste Art und Weise:

 Wir blicken in einen knallblauen Himmel ĂĽber einer idyllisch wellenplätschernden Bucht. Links leuchtet auf einer Landzunge die erhaben-goldene Statue der buddhistischen Schutz- und Gnadengöttin Guanyin, rechts grĂĽĂźt von einem vorgelagerten Inselchen, das ĂĽber eine kleine, steinerne BogenbrĂĽcke mit den Uferklippen verbunden ist, ein sich heimelig in den Fels duckender Tempel, an dem wir später noch das „sĂĽdliche Himmelstor“ durchschreiten werden. Dazwischen das Meer, das ganz eigentĂĽmlich von einer am Ufer blauen Farbe nach drauĂźen immer gelber wird – eine Eigenheit des Ostchinesischen Meeres, die wir in diesen zwei Tagen noch häufiger sehen werden.

 Putuoshan präsentiert sich gerne diesig-wolkenverhangen. Umso dankbarer sind wir fĂĽr die zwei Tagen absolut ungetrĂĽbten Sonnenscheins die wir hier genieĂźen durften.

 In wohliger aber stets vom Seewind gezĂĽgelter Wärme auf der LöwenbrĂĽcke ĂĽber dem Lotussee vor dem Puji-Tempel sitzen und die witzigen Grimassen der kleinen Löwen auf den BrĂĽckenpfeilern studieren. Ăśber weite, gelbe Sandstrände laufen, Vögel und Eidechsen beobachtend durch krachgrĂĽnen Wälder ziehen, auf immer neue, mal strahlend bunte, mal mystisch naturverbundene, mal rau bruchsteinerne Tempelanlagen stoĂźen; in der Luft Wellenrauschen, irisierende Töne kupferner Windspielblätter, Vogelstimmen – manchmal ein ratternder Diesel eines Fischerbootes – aber ohne den wäre es auch zu viel des Guten gewesen ;-). Uralte Bäume, wilde Drachenköpfe vor leuchtendem FrĂĽhlingsgrĂĽn, göttliche FuĂźabdrĂĽcke auf umwogten Klippen, immer wieder Silberschiffe und Räucherkerzen in kleinen Felsnischen am Weg, Palmen ĂĽber sanft geschwungenen Teefeldern. Wir mögen Shanghai-ausgezehrt gewesen sein, aber wir können dem Lonely Planet Guide nur zustimmen: Putuoshan ist das China, dass man sich immer erträumt hatte. NatĂĽrlich touristisch erschlossen, aber noch entheben sich die WĂĽrde der Jahrhunderte alten Anlagen und der Rhythmus des Insellebens dem Zugriff des puren Kommerz. Noch sieht man Pilger sich alle drei Schritte niederknieend auf Foding Shan hinaufbeten und auch junge Menschen in der ehrfurchterbietenden Halle des Puji Tempel in Andacht verharren. Noch sieht man die Dorfbewohner tagsĂĽber beim Majang spielen oder Wäsche waschen miteinander schwätzen und so entsteht, was man sonst in China so häufig vermisst: Flair!

 Abends gibt es fangfrischen Fisch in einem der vielen einfachen Lokale. Wer immer sich hier einen Fisch aus einer der kleinen Wannen und Becken aussucht sei vorgewarnt: im selben Moment in dem man seine Wahl trifft wird der Fisch mit einem Kescher aus seiner Wanne gefischt und mit Wucht auf den blanken Boden geschleudert – nichts fĂĽr zartbesaitete! Ansonsten kann man hier alles ausprobieren was schwimmen kann, Schalen hat oder auch nicht oder sonst irgendwie ins Meer gehört, von der Seeanemone bis zum Hai. Rotgekocht, gebraten, gekocht mit Lauch oder Knoblauch, wunderbare Fisch-Suppe. In den besseren Hotelrestaurants auch mit entsprechendem Ambiente – aber auch die NĂĽchternheit der Hafenrestaurants hat ihren Charme.

 Und das war dann auch das zentrale GefĂĽhl in diesen zwei Tagen:

 Das Leben ist schön, selbst jetzt und hier in China! FĂĽr die RĂĽckfahrt wurden zwar SARS-bedingt kurzerhand ALLE Fährverbindungen nach Shanghai gestrichen, so dass wir mit zwei Kurzfähren und dem Bus ĂĽber Ningbo heim mussten (wobei eine sehr freundliche Chinesin, die auch nach Shanghai wollte sehr hilfreich war – z.B. um zu bemerken, dass es fĂĽr Shanghai im Busbahnhof diesmal tatsächlich einen extra Warteraum und extra Boardinggates gab – sonst säßen wir wohl heute noch da... .) Im Bus trug ungefähr die Hälfte der Passagiere Masken. Eine Fieberkontrolle gab es nicht. So kamen wir um sieben Uhr mĂĽde aber sehr zufrieden wieder daheim an.

 Ein wenig ungläubig blicken wir noch auf die Wolkenkratzer und den unverändert dramatischen Verkehr – im Hinterkopf noch das sanfte klingende Pochen des Holzfisches zu den Gesängen einiger Mönche.

 Ob wir es noch einmal machen wĂĽrden? Aktuell wohl nicht. Aber dieses eine Mal war es wert! Wer die Investition eines Privattransportes nicht scheut oder ein eigenes Auto hat, der kann sich auch jetzt noch sehr sicher diese wirklich eindrucksvolle Auszeit gönnen! Einmal out of SARS und zurĂĽck... .

 

P.S.. Es sei angemerkt, dass SARS auch dazu beitrug, dass wir Putuoshan beinahe menschenleer antrafen. Gerade Wochenends oder gar in den Golden Weeks sollte man von einer Reise normaler Weise dagegen eher Abstand nehmen, denn dann wird es rappelvoll!

 

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